Rede des russischen Botschafters in Österreich, Dmitrij Ljubinskij, bei der Mitgliederversammlung der regionalen öffentlichen Organisation "Gesellschaft für die Freundschaft mit Österreich"
Rede des russischen Botschafters in Österreich, Dmitrij Ljubinskij, bei der Mitgliederversammlung der regionalen öffentlichen Organisation
"Gesellschaft für die Freundschaft mit Österreich"
(4. März 2025, 16.30 Uhr)
Verehrte Kolleginnen und Kollegen,
liebe Freunde!
Ein Jahr ist seit unserem letzten Treffen vergangen. Leider kann von positiven Veränderungen in den russisch-österreichischen Beziehungen keineswegs gesprochen werden. Die bilateralen Beziehungen waren und
bleiben in fast allen Bereichen in der "Tiefkühltruhe". Das über Jahrzehnte angesammelte Gepäck der Zusammenarbeit in Wirtschaft, Energie, Kultur, Wissenschaft und die Kontakte der Zivilgesellschaft sind durch den unfreundlichen Kurs Wiens und seine Unterstützung von sämtlichen illegitimen antirussischen Sanktionspaketen sowie von destruktiven Initiativen jeglicher Art ausnahmslos annulliert worden.
Wie Sie wissen, steckt die österreichische Politik seit vielen Monaten in einer tiefen Krise. Die Parlamentswahlen haben die inneren Widersprüche nicht gelöst. Das Ergebnis eines fünfmonatigen Verhandlungsmarathons mit wechselnder Zusammensetzung der Teilnehmer war die in der Geschichte erstmalige Bildung einer "Dreierkoalition der Verlierer" aus ÖVP, SPÖ und NEOS, wobei die bei den Wahlen als Verlierer hervorgegangenen „Volksparteiler“ die Führungsrolle behielten. Gerade gestern wurde das neue Kabinett mit Kanzler Christian Stocker vereidigt. Bei einer solchen Ausgangslage sind keine prinzipiellen Veränderungen in den Vorgehensweisen Wiens zu erwarten. Es scheint uns sehr wahrscheinlich, dass der Konfrontationskurs fortgesetzt werden wird. Die zentrale Frage ist: in welchem Ausmaß und wie lange?
Wir für unseren Teil bleiben offen für den Dialog mit allen verantwortlichen politischen Kräften. Für uns haben Pragmatismus und die Bereitschaft zum Aufbau von auf gegenseitigem Respekt und gegenseitiger Interessenabwägung basierenden Beziehungen die zentrale Rolle inne. Aber wir geben uns keinen Illusionen hin.
In der Zwischenzeit redet das offizielle Wien, als ob es den geopolitischen Paradigmenwechsel und alle damit verbundenen Ereignisse nicht bemerken würde und dabei den neutralen Status völlig vergessen habend, weiterhin den uns am unfreundlichsten gesinnten Ländern nach dem Mund. Die öffentliche Rhetorik der politischen Führung bezüglich des Jahrestags der Militärischen Spezialoperation ist eine Bestätigung dafür. In nächster Perspektive kann die Schärfe der antirussischen Erklärungen noch zunehmen, und zwar gegen den gesunden Menschenverstand und die Entwicklung der Ereignisse. Wir erwarten von Wien keine außenpolitische Unabhängigkeit, alles wird auf den russophoben Kurs Brüssels zugeschnitten. Schauen wir, was das alles in der Praxis bringt.
Der Abbruch der geschäftlichen Kooperation mit Russland, vor allem im Bereich der grundlegenden Energieversorgung, ist zu einer zusätzlichen ernsthaften Herausforderung für die österreichische Wirtschaft geworden, die das dritte Jahr in Folge taumelt und sich in einer Rezession befindet. Das BIP sank 2024 um 1 Prozent. Das Haushaltsdefizit stieg auf 3,9 Prozent des BIP - dem Land drohen Strafsanktionen aus Brüssel. Die Inflation stieg im Januar 2025 erneut auf 3,2 %. Die Arbeitslosenquote steigt (8,6 % im Januar). Die Wettbewerbsfähigkeit sinkt. Zu vermerken sind eine Verschlechterung des Geschäftsklimas und eine massive Kapitalflucht. Das Land wurde von der größten Insolvenzwelle seit 2009 getroffen (mehr als 6,5 Tausend Unternehmen wurden liquidiert). Die Industrieproduktion ging um 9,5 Prozent zurück. Die Krise trifft vor allem jene Branchen, in denen Österreich traditionell stark ist: Metallverarbeitung, Maschinenbau, Bau. Experten prognostizieren einen weiteren Abwärtstrend.
Wie dem auch sei, all das lastet auf den Schultern der gestern vereidigten neuen Regierung. Schon die kommenden Monate sollten zeigen, wie sehr die bunt zusammengewürfelte sogenannte "Bonbon"-Koalition in der Lage sein wird, durch ein konsolidiertes Vorgehen die Krisenerscheinungen einzudämmen. Sie hat keine Einarbeitungszeit (155 Tage sind seit den Wahlen vergangen). Letztlich geht es um die Stabilität der Staatsmacht.
Wir jedoch stehen vor völlig anderen Aufgaben. Das Jahr 2025 verläuft für unser gesamtes Land unter dem Zeichen des 80. Jahrestags des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg. Für das Jubiläumsjahr haben wir ein umfangreiches Veranstaltungsprogramm geplant, das bereits umgesetzt wird. Dieses soll dem Andenken an die sowjetischen Soldaten dienen, welche im Kampf für die Befreiung Europas und Österreichs von der "braunen Pest" das größte Opfer – ihr Leben – gebracht haben.
Anfang Februar hat bereits eine Reihe von Gedenkveranstaltungen im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen begonnen. Für den 30. März planen wir einen großen Festakt in der Stadt Oberwart (Burgenland), wo nicht weit von ihr die Rote Armee 1945 zum ersten Mal österreichisches Territorium betrat. Neben unseren traditionellen Aktionen am 9. Mai wird das Schlüsselereignis der Jahrestag der Befreiung Wiens am 13. April sein. An diesem denkwürdigen Tag werden wir eine Reihe von beeindruckenden Veranstaltungen haben.
Wir laden auch die österreichische Seite ein, sich daran zu beteiligen. Wir verzeichnen positive Signale, die nicht nur von spezialisierten NGOs und Aktivistengruppen kommen, die uns traditionell unterstützen, sondern auch von den regionalen und kommunalen Behörden. So findet am 15. April in St. Pölten (Niederösterreich) die feierliche Enthüllung einer Gedenktafel mit den Namen der bei der Befreiung der Stadt gefallen sowjetischen Soldaten unter Beteiligung von Vertretern der örtlichen Verwaltung statt.
Wir arbeiten produktiv mit den Botschaften der GUS-Staaten zusammen. Wien ist eine der wenigen europäischen Hauptstädte, in der alle postsowjetischen Staaten vertreten sind und sich die meisten von ihnen aktiv an unseren Initiativen und Gedenkveranstaltungen beteiligen.
Anders als viele europäische Länder erfüllt Österreich verantwortungsvoll die Verpflichtungen zur Pflege und den Erhalt unserer Kriegerdenkmäler. Im Jahr 2024 wurden bei mehr als 10 Grabstätten umfassende Reparatur- und Restaurierungsarbeiten durchgeführt.
Leider kann man sich solcher positiven Dinge nicht rühmen, wenn es um die kulturellen und humanitären Beziehungen geht, die zur Geisel der politischen Konjunktur geworden sind. Auch der Dialog zwischen den Zivilgesellschaften ist auf Geheiß der österreichischen Behörden eingestellt worden. Natürlich gefällt dieser Zustand weder uns noch dem vernünftigen Teil der österreichischen Gesellschaft, der die russische Kultur und Kunst liebt und schätzt. Es ist erfreulich, dass die russische Komponente langsam, aber sicher auf die hiesigen Bühnen zurückkehrt. Unsere Künstler und Meisterwerke der russischen Klassik sind in den Programmen der führenden Konzertsäle vertreten, obwohl es auch hier noch unausgesprochene Einschränkungen gibt.
Die Ablehnung der von den Behörden und den Medien aufoktroyierten antirussischen Rhetorik durch die Öffentlichkeit nimmt zu. Bezeichnend dafür ist das anhaltende und sogar wachsende Interesse an Russisch-Sprachkursen im Russischen Zentrum für Wissenschaft und Kultur in Wien. Im November 2024 fand in Wien die Gründungsveranstaltung des österreichischen Zweigs der Internationalen Russophilen-Bewegung statt.
Wir wissen, dass die von den Mainstream-Medien nicht verblendeten einfachen Österreicher versuchen, die grundlegenden Ursachen und schwierigen Realitäten der modernen Konflikte objektiv zu verstehen. An dieser Stelle möchte ich getrennt auf die gepriesene westliche Meinungsfreiheit und die Realitäten, in denen wir arbeiten müssen, eingehen. Über die Botschaft wurde eine fast totale Informationsblockade verhängt, die wir dennoch durchbrechen können.
Ein weiterer Ausbruch der Russophobie war während des jüngsten Jahrestages der Militärischen Sonderoperation zu beobachten. Im Einklang mit den lokalen Offiziellen wetteiferten die österreichischen Medien miteinander bei der Anschwärzung unseres Landes vor dem Hintergrund der grenzenlosen Solidarität mit der Ukraine, die "tapfer für die Freiheit kämpft". Sowohl Print- als auch Online-Publikationen weigerten sich beispielsweise, meinen Kommentar "Auf der Suche nach einem nachhaltigen Frieden" zu veröffentlichen, in dem unter anderem die Voreingenommenheit der Medien bei der Berichterstattung über die Ukraine-Krise verurteilt wird. Die örtliche Schreiberzunft bestätigte selbst die Begründetheit unserer Kritik. Trotzdem fand das Material, das in den sozialen Netzwerken der Botschaft auf Deutsch und Russisch veröffentlicht wurde, eine breite und sehr positive Resonanz beim Publikum (wurde insgesamt von etwa 25 Tausend Menschen gelesen; mehrere hundert Reposts wurden registriert). Dies zeugt einmal mehr von der ernsthaften Nachfrage der Gesellschaft nach objektiven Informationen über die Geschehnisse in der Ukraine. Offensichtlich ist der Überdruss der einfachen Österreicher gegenüber der russophoben Voreingenommenheit der lokalen Medien, worüber sie in an uns gerichteten zahlreichen Briefen und Kommentaren offen berichten.
Abschließend möchte ich noch einmal betonen, dass wir nicht die Initiatoren für den Zusammenbruch der Grundlagen der bilateralen Zusammenarbeit mit Österreich waren. Zu überzeugen und uns erst recht aufzudrängen steht nicht in unseren Regeln. Die Wahl liegt bei Wien.
Wir für unseren Teil werden auch in Zukunft nach Möglichkeit mit offenem Visier dort arbeiten, wo das möglich ist. Wir zählen hier auf die Unterstützung und den Beitrag Ihrer Gesellschaft. Freunde in unfreundlichen Ländern zu kultivieren ist eine schwierige, aber gefragte Aufgabe.
Die Stimmung in der Gesellschaft ändert sich gravierend, der antirussische Trend findet keineswegs bedingungslose Unterstützung. Das wissen wir von unseren Kontakten in öffentlichen und politischen Kreisen, mit der österreichischen Geschäftswelt und der Kultur.
Ich möchte glauben, dass die ODE an die Freundschaft mit Österreich noch nicht zu Ende gesungen wurde.
D. LJUBINSKIJ